Eine aktuelle Dissertation an der Universität Göttingen möchte belegen, dass das Tierwohl nicht von der Größe des Betriebs abhängt. Das mag stimmen, denn bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass in allen Betriebsgrößen Tierschutzprobleme in einem Ausmaß vorkommen, welches das gesamte System der konventionellen Nutztierhaltung in Frage stellt. Gerade an den großen Ställen, wie der Schweinmastanlage in Tornitz (Vetschau/Brandenburg) mit offiziell 52.000 Tieren wird aber besonders deutlich, was es für viele tausend Schweine bedeutet, wenn z.B. das Ergebnis amtlicher Kontrollen fragwürdig ist.
Wissenschaftlicher Beleg oder Desaster für die konventionelle Tierhaltung?
“Tierwohl hängt nicht von der Bestandsgröße ab.” So resümiert das agrarpolitische Onlineportal “top agrar online” eine aktuelle Dissertation von Dr. Sophie Meyer-Hamme von Dezember 2015. Die an der Fakultät für Agrarwissenschaften der Georg-August-Universität Göttingen vorgelegte Arbeit soll zeigen, dass es keine belastbaren Aussagen über den Zusammenhang zwischen der Bestandsgröße einer Tierhaltungsanlage und dem nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft objektiv messbaren Tierwohl gäbe.
Doch liest man den Bericht genau, erweist sich die Studie schnell als Desaster für die konventionelle Tierhaltung: Denn die Tatsache dass kleine Betriebe in puncto Tierwohl nicht besser abschneiden, liegt nicht an der besonderen Qualität moderner Großanlagen. Im Gegenteil: Konventionelle Tierhaltungsanlagen weisen in allen Größenordnungen so eklatante Missstände auf, dass diese Form der Tierhaltung – tatsächlich unabhängig von der Betriebsgröße – insgesamt in Frage steht.
Was “top agrar online” hier zu einem wissenschaftlichen Beleg adelt, “dass eine hohe Anzahl an Mastschweinen pro Bestand nicht automatisch auf eine niedrige Tierwohlbewertung hinweist”, ist aus Tierschutzsicht blanker Zynismus. Denn die konventionelle Schweinehaltung schneidet in allen Betriebsgrößen denkbar schlecht ab.
Dr. Sophie Meyer-Hamme hatte in ihrer Studie 60 konventionelle Schweinemastbetriebe in Größenordnungen zwischen 260 und 11.000 Mastplätzen untersucht. Ihre Arbeit bietet einen guten Querschnitt, wie die Tierwohlsituation in der Praxis insgesamt aussieht. Die Beurteilung erfolgte durch das “Welfare Quality Protokoll (WQP)”, bei dem aus einer Reihe von am Tier direkt erhobenen Indikatoren nach 12 Kriterien eingeteilt in 4 Grundsatzkategorien (Fütterung, Haltung, Gesundheit und Verhalten) eine Gesamtbewertung gebildet wird.
Die Ergebnisse sprechen für sich:
- Im Durchschnitt erreichten die Betriebe lediglich 55 von 100 möglichen Punkten.
- Der Grundsatz “Fütterung” erhielt mit Abstand die höchste Punktzahl. Das ist nicht verwunderlich, denn die Tiere sollen ja gemästet werden. Erhebliche Mängel gab es allerdings bei der Wasserversorgung!
- Unabhängig von der Bestandsgröße leiden hinsichtlich des Grundsatzes “Haltung” knapp 35% aller Tiere an Formen der Bursitis (Schleimbeutelentzündung).
- Gemessen an den Vorgaben der Nutztierhaltungsverordnung waren 40% der Buchten überbelegt. Überbelegte Buchten wurden auf 92% der Betriebe festgestellt.
- Der Grundsatz “Gesundheit” erzielte mit nur 29 von 100 möglichen Punkten das schlechteste Ergebnis. Über alle 60 Betriebe gab es im Durchschnitt 11% verwundete Schweine! In kleinen Betrieben hatten 4,2 %, in mittleren und großen Betrieben sogar 11,6% und 10,7% der Tiere veränderte Lungen.
- Hinsichtlich des Grundsatzes “artgerechtes Verhalten” gab es mit 30 von 100 Punkten eine überaus schlechte Bewertung des emotionalen Zustandes der Tiere. Beispiele sind Defizite beim Erkundungsverhalten.
Bemerkenswert ist, dass es sich bei dieser Studie um eine Untersuchung handelt, die von ihrer Fragestellung und Methodik her aus der Perspektive der nutztierhaltungsfreundlichen Agrarwissenschaft geführt wird. Tierethische Zugänge, die Schweine als neugierige, empfindungsfähige und intelligente Mitgeschöpfe mit komplexen Verhaltensweisen und Bedürfnissen einordnen, sind noch gar nicht berücksichtigt. Wer glaubt, Einwände von Tier- und Umweltschützern sein emotional, unwissenschaftlich und damit irrelevant, wird gerade hier eines besseren belehrt. Die Promotion von Dr. Sophie Meyer-Hamme belegt mit eindrucksvollen Fakten, dass es eben nicht einige wenige “schwarze Schafe” sind, die ihre Tiere schlecht halten, sondern dass das gesamte System der konventionellen Schweinhaltung als solche das Problem ist.
Blackbox Tornitz
Was bedeuten diese Ergebnisse für die Nutztierhaltung in Brandenburg? Gehen wir einmal davon aus, dass es sich bei den oben dargestellten Ergebnissen nicht um eine zufällige Häufung zufällig festgestellter Missstände bei zufllig auftretenden Ausnahmen in einem sonst an und für sich gut funktionierenden System handelt, sonder um einen Querschnitt der ganz gewöhnlichen modernen konventionellen Schweinehaltung. Dann müssten sich die Ergebnisse auch auf Brandenburg übertragen lassen. Was würde das bedeuten z.B. für die größte Schweinamastanlage in Tornitz nahe Vetschau?
In der Schweinemastanlage Tornitz hält die Bolart GmbH derzeit offiziell über 52.000 Schweine. 10.000 Ferkel werden laut der örtlichen Bürgerinitiative “Schweinewind” noch gar nicht mitgezählt. Die Anlage soll aktuell auf 67.000 Tierhaltungsplätze ausgebaut werden. Damit wäre Tornitz die größte Schweinemastanlage Deutschlands. Überträgt man die oben gemachten Angaben, so litten dort 23.000 Schweine an Schleimbeutelentzünungen und wären über 7.300 Tiere in einer Tierhaltungsanlage akut verletzt. Über 7.000 Schweine hätten aufgrund der scharfen Ammoniakdämpfe bei Erreichen der Schlachtreife bereits veränderte Lungen.
Diese Überlegung ist nur Theorie, doch sie deckt sich auffällig mit den von der Tierrechtsorganisation ARIWA gemachten Aussagen. Bereits 2014 hatten die Tierschützer zahlreiche Verstöße in Tornitz mit eindrucksvollen Videoaufnahmen dokumentiert und später Anzeige erstattet. Doch das Verfahren verlief im Sande. Laut Presseberichten hatte ein mehrköpfigen Team von Experten des Veterinäramtes und des zuständigen Ministeriums bei einer unangemeldeten Kontrolle kein Grund zur Beanstandung gefunden. Die Staatsanwaltschaft hatte das Verfahren daraufhin eingestellt.
“Offiziell” ist in Tornitz damit alles in Ordnung. Für die Öffentlichkeit bleibt Tornitz eine Blackbox. Die Möglichkeit zu einer weiteren gerichtlichen Überprüfung oder einem unabhängigen Gutachten besteht kaum. In der Praxis macht es eben doch einen Unterschied, ob diese Frage 250 Schweine betrifft, oder 52.000.
Gegen die Erweiterung der Schweinmastanlage in Tornitz kämpft derzeit der NABU Brandenburg zusammen mit der Bürgerinitiative “Schweinewind”. Für das Widerspruchsverfahren gegen die Genehmigung brauchen die Aktiven noch Unterstützung. Über die Kampagne “Stoppt den Megastall!” können aktive den Widerstand mit einer Spende unterstützen.
top agrar online: “Dissertation zeigt: Tierwohl hängt nicht von Bestandsgröße ab”:
Dissertation Dr. Sophie Meyer-Hamme: “Zusammenhang zwischen Bestands- , Gruppengröße und Indikatoren des Tierwohls in der konventionellen Schweinemast”
Lesenswerter Blogbeitrag von Dr. Frederike Schmitz:
https://friederikeschmitz.de/wissenschaftlich-bestaetigt-elendes-schweineleben/
Schweinemastanlage Tornitz in der Presse:
Videodokumentation von “Tierfabriken Widerstand”
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